Auch wenn ich zurzeit noch regelmäßig für eine Schülerin gehalten werde, musste auch ich „lit“ googlen, bevor ich das Kompliment erkannte.
Ein paar meiner ehemaligen Kolleginnen und Kollegen haben mich belächelt, dass ich ein „Ponyhof Leben im Internat“ einer Planstelle an einer staatlichen Schule vorziehe. Immerhin erscheint der Zeitpunkt für das „Experiment-LSH“ einleuchtend: ungebunden und direkt nach dem Referendariat. Doch warum habe ich mich dafür entschieden?
Unvergessen eine Seminarsitzung, deren Leiter feststellte: „Niemand kann alle Schülerinnen und Schüler mögen.“ Eine Freundin rief: “Doch, Charlotte kann das!“.
Natürlich lasse auch ich mich von dem Verhalten mancher Schülerinnen und Schüler nerven und so manchen Tag empfinde ich als echt anstrengend. ABER: als Menschen, als Persönlichkeiten mag ich alle meine Mädchen und Jungen. Sie sind mir allesamt sehr wichtig, weshalb es mir ein Anliegen ist, sie stets ernst zu nehmen.
Dies, gepaart mit meinem Wunsch, authentische Beziehungen zu den Jugendlichen aufzubauen, war für mich der ausschlaggebende Grund dafür, mich am Internat Solling zu bewerben. Als Religionslehrerin hätte ich an einem staatlichen Gymnasium viele Schülerinnen und Schüler lediglich für zwei Unterrichtsstunden die Woche gesehen – viel mehr als die Namen erfahre ich dabei über die meisten nicht. Ein weiterer, nicht unerheblicher, Grund für das Internat Solling war, dass ich mein Pferd mitbringen konnte. Ich reite seit meiner Kindheit. Zu Beginn des Studiums habe ich für ein Jahr das Reiten aufgegeben. In dieser Zeit war ich dermaßen unausstehlich, dass eine Freundin mir eine Reitbeteiligung organisiert hat. Der Spruch „Es gibt keine tieferen Geheimnisse, als die zwischen Pferd und Reiter“ beschreibt diese sehr besondere Beziehung meines Erachtens wirklich sehr gut! Ein Pferd ist ein unheimlich guter Spiegel der Emotionen, du kannst vor ihm nichts, aber auch gar nichts, verheimlichen. Ich hätte es mir bis zu meinem Eintritt in das LSH nie vorstellen können, dass mich meine Schülerinnen und Schüler mal verschwitzt und stalldreckig sehen dürfen. Doch das Privileg, die Schülerinnen und Schüler ganzheitlich kennenlernen zu dürfen beinhaltet auch die Umkehrung. Die jungen Leute kennen mich inzwischen ziemlich genau (mittlerweile wissen wohl wirklich alle um meine ausgeprägte Tollpatschigkeit) und während die Schülerinnen und Schüler an meiner alten Schule den Eindruck vermittelt bekommen haben könnten, ich wäre 24/7 gut gelaunt, funktioniert dies hier nicht. So hat zum Beispiel an unserem Tisch beim traditionellen Martinsgansessen das Tranchieren des Tieres länger gedauert, als an so manch anderem: Ich habe mich als eingefleischte Vegetarierin geweigert, diese Aufgabe zu übernehmen. Das haben dann kurzerhand zwei Mädchen übernommen. Derartige Situationen sind nicht von Nachteil: unser Miteinander im Anschluss an den Unterricht bietet großartige Möglichkeiten. Ein Beispiel: eine Schülerin ist schlecht drauf und resigniert im Unterricht beinahe. Am Nachmittag treffe ich sie im Stall wieder und wir reden – auf Augenhöhe – über Gott und die Welt. Dieses Gespräch kittet die durch die Mathematik „angeknackste“ Beziehung und wirkt sich somit letztendlich positiv auf den Unterricht aus.
Insbesondere im Matheunterricht richte ich ein ganz besonderes Augenmerk darauf, dass die Schülerinnen und Schüler angstfrei lernen. Ein Schlüsselmoment war, als ein Dozent auf einer Fortbildung von neurowissenschaftlicher Seite her aufzeigte, dass ein „Ich schaffe das sowieso nicht“ ein Garant dafür ist, dass es wirklich nicht funktioniert, da eine negative Erwartungshaltung dafür sorgt, dass das Gehirn kein Dopamin ausschüttet, wodurch die Jugendlichen nicht in der Lage sind, sich mit bestimmten Sachverhalten auseinanderzusetzen. Erfolgserlebnisse sind für die Erwartungshaltung prägend, sodass – meiner Auffassung nach – Unterricht lediglich leicht überfordern sollte, sodass der Erfolg am Ende spürbar wird.
Da ich selber eine Spätzünderin im Bereich Mathematik war – bei mir hat es erst in der 10. Klasse „geklickt“ – habe ich großes Verständnis für Schülerinnen und Schüler, die nicht mit reiner Begeisterung auf den Unterrichtsstoff treffen. Schon in der Oberstufe habe ich Freundinnen „Intensivnachhilfe“ in Mathe gegeben, wenn einer der für Mathe reservierten Unterkurse anderweitig vergeben wurde. Mein Ehrgeiz, die Mathematik zu erklären, war geweckt! Ich bin fest davon überzeugt, dass jeder (der keine Beeinträchtigung hat) sich ein Grundverständnis für die Schulmathematik erarbeiten kann. Vielleicht nicht immer mit Bestnoten, aber es ist zu schaffen.
Da ich die erste Akademikerin unserer Familie bin, bin ich sehr naiv an das Mathematikstudium herangegangen: „Ich habe den Mathe-LK gut geschafft – dann werde ich das Studium schon schaffen, wenn ich Hausaufgaben mache.“. So einfach gestaltete sich dies leider nicht. Einige Tränen sind geflossen, tiefe Freundschaften haben sich im gemeinsamen Kampf gegen „Analysis II“ entwickelt… Aber das Gefühl die Prüfungen zu bestehen ist unbeschreiblich. Die Erinnerung an diese Zeit nutze ich als Erfahrungsschatz, um meine Schülerinnen und Schüler zu ermutigen.
Alles in allem bin ich glücklich, mich für das Internat Solling entschieden zu haben. Es erfüllt mich mit großer Freude, wie viel Vertrauen mir die Schülerinnen und Schüler, insbesondere die Mädchen meiner Kam, entgegenbringen. Durch meine Tätigkeit hier erfahre ich eine Bedeutsamkeit meiner selbst, die ich so noch nicht kannte. Hier ist das Maß an Wertschätzung viel tiefgehender als ich es bisher erfahren durfte. Auch die Unterstützung der Kolleginnen und Kollegen gibt mir viel. All das ist die Entschädigung dafür, dass ich meine Freunde und meine Familie so wenig sehe und mich ein wenig so fühle, als sei ich auf Montage – wochenlang abwesend und dann für ein paar vollgepackte Wochen wieder mittendrin. Sehr gern übrigens auf Deutsch Hip Hop Konzerten. So ein bis zwei Mal im Jahr tobe ich mich da so richtig aus!
im August 2020