Da mein Vater der Ansicht ist, dass wir Kinder mehrere Sprachen beherrschen sollten, legt er sehr großen Wert darauf, dass wir unsere Bildung im Ausland erwerben. So habe ich vom 12. Lebensjahr an alleine in Thailand gelebt, um dort die internationale Schule zu besuchen. Das war wirklich hart. Als ich aus Taiwan dort ankam, konnte ich noch kein Wort Englisch und musste sowohl im Alltag, als auch im Unterricht jedes einzelne Wort in Google-Übersetzer eingeben. Zudem habe ich alleine in einem kleinen Appartement gelebt und musste lernen, selber für meine Wäsche und mein Essen verantwortlich zu sein.
Drei Jahre später hat mein Vater auf einer großen Messe in Deutschland einen Altschüler kennengelernt, der ihm vom Internat Solling erzählt hat. Da ich in Thailand in dieser völligen Freiheit ein wenig orientierungslos war und trotz täglicher Nachhilfe in Englisch meine Schulnoten nicht nur glänzend waren, hat er mich gefragt, ob ich bereit sei, mich ein zweites Mal auf das Abenteuer eines mir fremden Landes und einer neuen Sprache einzulassen. Froh über einen Umgebungswechsel, und ehrlich gesagt, auch über die Aussicht, in einem Internat nicht wieder komplett auf mich alleine gestellt zu sein, habe ich seinem Vorschlag zugestimmt.
Meiner Meinung nach ist dieser unbedingte Wunsch meines Vaters, uns die bestmögliche Bildung in Kombination mit Auslandserfahrungen (mein Bruder war in den USA und in Australien, meine Schwester in Irland) zukommen zu lassen, der Tatsache geschuldet, dass er selber eine harte Kindheit hatte. Als er ungefähr 12 Jahre alt war hat seine Mutter das Sorgerecht für ihn an ihre Schwester, seine Tante abgegeben. Für das in Taiwan zu zahlende Schulgeld hat sich keine der beiden Frauen zuständig gefühlt und so musste er es selber mit dem Verkaufen von Gemüse auf dem Markt verdienen. Trotz dieser Belastung war er der beste Schüler seiner Stufe und mittlerweile haben wir eine Fabrik, die Zulieferer für die Autoindustrie ist. Ich empfinde großen Respekt gegenüber seiner Lebensleistung und habe mit dem Hintergrundwissen um seine Kindheitserfahrungen auch nie dagegen aufbegehrt, mein Zuhause zu verlassen. Selbstverständlich werde ich später in irgendeiner Form für unser Unternehmen tätig sein, das verlangt die Tradition.
Doch möchte ich darüber hinaus auch dem Land, dem ich zwar entstamme, in dem ich aber die vergangenen 8 Jahre kaum gelebt habe, etwas zurückgeben. Dies entspricht sowohl einem tiefen Verpflichtungsgefühl gegenüber meiner Herkunft, als auch meinem taoistischen Glauben – selbstverständlich möchte ich in meinem nächsten Leben als Mensch, nicht als niederes Tier wiedergeboren werden. Deswegen ist es tief in mir verwurzelt, moralisch zu handeln. Mein Wunsch ist, für ein Jahr in Taiwan in einem entlegenen Krankenhaus als Arzt zu arbeiten und so Menschen ärztliche Versorgung zukommen zu lassen, die sonst keinen Zugang dazu hätten. Am allerliebsten wäre ich unsterblich, um jede Menge Gutes für andere tun zu können.
Selbstverständlich brauche ich dafür gute Noten. Nachdem ich leider in der 12. Klasse unmotiviert war und viel zu naiv an das Lernen herangegangen bin, habe ich die Abiturzulassung nicht erreicht. Da ich als Volljähriger für vier Monate meiner Wehrpflicht in Taiwan nachkommen musste, habe ich in dieser Zwangspause vom LSH viel deutlicher spüren können, wie schön es am Internat ist und was für Möglichkeiten uns hier geboten werden (in Taiwan wäre zum Beispiel ein Leistungskurs in Kunst undenkbar! Auch eine Philosophie-AG, in Taiwan ist Philosophie ein Studiengang. Darüber hinaus ist es einfach unbeschreiblich schön, gemeinsam mit Gleichaltrigen erwachsen zu werden). LSHler zu sein ist etwas Besonderes und nicht viele erhalten die Chance, hier zu leben und zu lernen! Manchmal, insbesondere samstags, vermisse ich meine Freunde, mit denen ich seit der 8. Klasse zusammen war – die haben alle letztes Jahr Abitur gemacht. Diese kleinen Einsamkeitsmomente nutze ich als Erinnerung an meinen Fehler und wandle sie in Motivation um.
im Dezember 2020