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Alle starken Gefühle sind letztendlich meistens positiv. Selbst das Gefühl der Entbehrung, da es den Menschen dazu auffordert, tätig zu werden, um sich den dieses Gefühl hervorrufenden Wunsch zu erfüllen. Zudem lässt mich meine Lebenserfahrung der Überzeugung sein, dass „Glück“ häufig selbst erarbeitet ist. Mit einer gesunden Selbsteinschätzung, Überzeugung vom eigenen Tun, Hingabe, Kreativität, Beharrlichkeit, Durchhaltevermögen und letztlich Fleiß können meines Erachtens die meisten Menschen sehr viel erreichen.

Hinsichtlich meiner Familie spreche ich von einem riesengroßen Glück, das mich trägt.
Aufgewachsen bin ich, sind wir fünf Brüder, auf einer abgelegenen Kaffee-Plantage im Landesinneren von Brasilien. Dies hat nicht nur zu einer großen Naturverbundenheit, sondern auch zu einer engen Bindung innerhalb der Familie geführt.
Da die dortige Privatschule nur bis zur mittleren Reife ging, bestiegen mein älterer Bruder Hubertus und ich 1967 ein Schiff gen Deutschland, um am LSH unser Abitur zu machen. Es war sehr gut für mich, gleichzeitig mit Hubertus am LSH anzukommen und sogar die ersten 1,5 Jahre miteinander ein Zimmer zu teilen. Wir waren schon immer eng befreundet und konnten einander über das Heimweh der ersten Wochen im kalten Deutschland hinweghelfen. Vielmehr haben wir uns durchaus ein wenig in diesem Gefühl gesuhlt! Sehnsucht, Liebeskummer, Heimweh – diese Gefühle lassen einen Menschen eine starke Verbindung zu dem aufbauen, was er vermisst. Unsere Gitarren und die Musik unserer Heimat waren uns ein wichtiger Halt, obgleich das Gefühl des Vermissens dadurch auch aufrecht gehalten wurde. Im Portugiesischen gibt es sogar ein Wort dafür: „Saudade“. Unsere Familie hat uns häufig Tonaufnahmen mit Naturgeräuschen des Lebens auf der Farm und den Stimmen unserer Familienmitglieder aus der Heimat gesendet, so dass unsere Bindung nie abgerissen ist. Noch heute lese ich gerne in unserem Briefverkehr aus dieser Zeit. Als zwei Jahre nach uns auch unser jüngerer Bruder Alexander auf das Internat kam, waren wir rührend darum bemüht, auch ihn herzlich willkommen zu heißen und dafür zu sorgen, dass er sich in Holzminden gut integriert. Nach wie vor stehen wir Brüder in regem Kontakt und nutzen jede Gelegenheit, uns zu treffen und miteinander zu musizieren.

Ich glaube zu erinnern, dass wir am Internat die Tradition des Geburtstagsständchens etabliert haben! Für mich, der aus einer sehr musikalischen Familie stammt, war es toll, dass am LSH Musik so hoch angesehen war und täglich, in der Morgen- und Abendsprache, eine Rolle gespielt hat. Nach wie vor musiziere ich nahezu tagtäglich und habe immer eine kleine Ukulele in meinem Büro. Das sich mittlerweile in Hamburg befindet, wo ich seit meiner Eheschließung 1980 nach einigen beruflichen Wanderjahren in Brasilien, Frankreich und Holland lebe und wir unsere drei Töchter großgezogen haben. Obgleich ich Portugiesisch fließend und Englisch, Französisch und Niederländisch gut spreche, ist Deutsch die Sprache, in der ich beheimatet bin. Unsere Eltern haben als junge deutsche Einwanderer (ich wurde zwei Wochen nach ihrer Ankunft in Brasilien geboren) immer Deutsch mit uns gesprochen und so trifft der Begriff „Muttersprache“ in Bezug auf mich wirklich sehr gut zu. Obgleich auch meine Frau in Brasilien geboren ist, haben auch wir mit unseren Kindern Deutsch gesprochen. Umso mehr freut es mich, dass unsere Töchter mittlerweile Portugiesisch sprechen. Während der 2,5 Jahre, in denen ich in Brasilien tätig war, konnte ich unseren Kindern die südamerikanischen Wurzeln ihrer Eltern nahebringen, und so konnten sie diesen Zweig unserer Familie und unsere Kultur derart gut kennenlernen, dass sie sich zu unserer Freude stark damit identifizieren. Auch sie fühlen sich sehr zur lateinamerikanischen Musik hingezogen. Die Musik stellt eine wichtige Konstante in meinem, in unserem Leben dar.

Im Rückblick auf meine Karriere darf ich bei aller Bescheidenheit sagen, dank guter Voraussetzungen, oben genannter Eigenschaften und glücklichen Fügungen Einiges erreicht zu haben. Ich blicke nun, in der Endphase meiner Berufstätigkeit, mit Dankbarkeit auf mein Unternehmen, das ich über 25 Jahre kontinuierlich aufbauen konnte und nun an unsere älteste Tochter übergebe. Nach meinem BWL- Studium in Brasilien, beruflicher Tätigkeit in den Niederlanden und in Deutschland, meinem MBA an der renommierten INSEAD Management Schule in Fontainebleau/ Frankreich habe ich 2,5 Jahre als Interimsmanager für eine große holländische Einzelhandelskette eine Totalsanierung in Brasilien durchgeführt. Dies war die herausforderndste Aufgabe in meiner Laufbahn als Angestellter und hat mich positiv aus der Bahn geworfen, sodass danach ein reguläres Angestelltenverhältnis für mich zunehmend unattraktiv wurde. So nahm ich sechs Jahre später mein Können und meinen Mut zusammen und wurde 1999 selbstständiger Unternehmer.

Nun, in meinen 70igern, wandelt sich mein Leben allmählich. Mein Ziel ist zu erlernen, nicht mehr, wie es in meinen Berufsjahren notwendig war, als Multitasker ein Dutzend Themen parallel in der Luft zu halten. Vielmehr möchte ich die Zeit haben, mich über mehrere Stunden am Stück auf eine einzige Sache zu konzentrieren. Die Herausforderung daran ist, dass ich unter Volldampf am motiviertesten bin, zukünftig aber mit „nur“ 80% Energieaufwand arbeiten möchte! Wenige Dinge tun, diese dafür aber intensiver. So möchte ich zum Beispiel Italienisch lernen (das wird dann meine sechste Sprache) und neben Sachbüchern auch Romane lesen. Meine Frau und ich genießen es schon jetzt zunehmend, Zeit in unserem kleinen Zweitwohnsitz in Portugal zu verbringen. Hier in Deutschland bin ich nach dem (Rück-) Erwerb des ehemaligen Waldes meines Großvaters seit mittlerweile 15 Jahren Forstwirt in Mecklenburg- Vorpommern und blicke mit Freude auf die rund 100.000 Bäume, die ich in den vergangenen 10 Jahren gepflanzt habe. Wenig erdet mich so sehr, wie zwischen den wachsenden Setzlingen zu stehen. Das Abheben mit einem von mir geführten Flugzeug hingegen, das werde ich, der mit 18 Jahren den Pilotenschein gemacht hat, nicht mehr häufig erleben. Dieses wunderbare Hobby hat mir sehr viele unvergessliche An- und Augenblicke beschert und den Kindheitstraum, fliegen zu können, erfüllt. Das Gefühl, sich Kraft von Menschen erschaffener Technik vollkommen von der Erde zu lösen und eine schwere Maschine in der Luft zu beherrschen, wird mir fehlen. Doch ist es so viele Jahre gut gegangen – ich möchte das Glück nicht herausfordern. Zu groß die Freude am Leben und daran, dass es mir gelungen ist, viele Menschen mit und in ihren individuellen Fähigkeiten gefördert zu haben. Das Wissen darum, dass sich Mitarbeiter freuen, mit mir zu arbeiten und meine Familie gerne Zeit mit mir verbringt, das Vertrauen meiner Mitmenschen – all dies rührt und beschenkt mich. Da muss ich nicht mehr abheben.