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Man muss die Mentalität seiner unmittelbaren Umgebung verstehen, dann kann der Mensch sich gut mit dem arrangieren, was ihn umgibt. Meine Fähigkeit, mich meinem Umfeld anzupassen und trotzdem meinen eigenen Weg zu beschreiten, habe ich sicherlich in meiner Zeit als Schüler am Internat Solling (welches zu meiner Zeit noch „Landschulheim am Solling“ hieß) entwickelt. Blicke ich auf meine nunmehr 97 Lebensjahre zurück, so darf ich sagen, dass ich ein gutes, erfülltes Leben hatte – abzüglich der Kriegs- und Nachkriegszeit. Mir ist es im Laufe meines Lebens immer gelungen, die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Mein Eintritt ins Internat Solling hatte familiäre Gründe: Mitgründer Gerhard Zimmermann war mein Onkel. Dank dieser Verbindung erhielten meine Eltern eine Ermäßigung des Schulgeldes, was ihnen ermöglichte, mir die gute Schulbildung am Internat zukommen zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt konnte noch niemand ahnen, dass kriegsbedingt großer Lehrermangel herrschen würde! Ich erinnere noch gut, wie entsetzt Dr. Weller und Harry Freitag waren, als sie unserer Wissenslücken gewahr wurden. So wurde zum Beispiel unser hervorragender Musiklehrer, Herr Brand, eingezogen und durch „Musikstunden“ mit von Braunschweig geschickten Lehrern ersetzt, die uns lediglich Nazilieder beibrachten. Parallel zu meiner Adoleszenz griff der Krieg auch über den Unterricht hinaus zunehmend in mein Leben ein – wir mussten zur Hitlerjugend und in den Ferien zum Arbeitsdienst bzw. in Wehrertüchtigungslager. In diesem Zusammenhang bin ich auch zum ersten Mal in meinem Leben auf die auf Klassenunterschiede zurückzuführenden sozialen Spannungen gestoßen. Wir LSHler wurden auf die umliegenden Ortschaften aufgeteilt und so traf ich in Altendorf auf Arbeiter, die uns Schüler des Internates als „die Reichen“ verachteten. Diese Konfrontation mit völlig anderen Lebensrealitäten hat mir zugesetzt – zumal in ich in dem Alter war, in dem Jugendliche verstärkt ihre Außenwelt wahrnehmen. Darüber hinaus fielen die Dinge, die in der Internatsgemeinschaft zuvor prägend waren, weg – für uns gab es kein Theaterspielen, keine Wanderungen mehr; dafür aber, wie eingangs bereits erwähnt, viele Lehrerwechsel und Unterrichtsausfälle.

Nichtsdestotrotz war und ist mir das Internat Solling ein wichtiger Ort. Nachdem ich 1943 eingezogen wurde (zusammen mit den beiden Mitschülern Fritz Dölling und Ernst Grohmann, die ich leider in Holland aus den Augen verloren habe), habe ich im Anschluss an die Nachkriegswirren an der Fachhochschule Weihenstephan eine Ausbildung im Bereich Gartenbau gemacht. Danach war ich 1956 zunächst als Austauschschüler in der Wenatchee-Experiment-Station an der Universität Washington. Es folgten Reisejahre durch die USA und die Dominikanische Republik. Während all dieser Jahre war mir meine Tante Lenka (die zweite Ehefrau meines Onkels Gerhard Zimmermann), die am LSH lebte, immer ein Anker. Bei ihr konnte ich unterkommen, wenn ich auf die Einreisegenehmigung zu meinen im Osten lebenden Eltern warten musste. So habe ich über einige Jahre immer wieder Zeit in direkter LSH-Nähe verbracht und insbesondere die Kontakte zu Harry Freitag und Dr.Triloff aufrechterhalten.

Da ich in Deutschland nicht so recht Fuß fassen konnte, bin ich 1959 in die USA ausgewandert. Bis zum Vietnamkrieg, der das Land meiner Meinung nach unheilbar entzweit hat, waren die Vereinigten Staaten ein wunderbares Land voller Freiheiten; ein jeder konnte dort seinen Lebenstraum verwirklichen. Dank einer Anstellung als „Research Assistent“ an der Cornell University in Ithaca, New York, habe ich dort zunächst meinen Master in Nematologie (Schädlingsbekämpfung) gemacht und die dafür notwenigen zwei Jahre auf meine amerikanische Staatsbürgerschaft gewartet. Da ich während einer anschließenden Anstellung als Nemotologist beim US-amerikanischen Landwirtschaftsministerium in Georgia feststellte, dass alle meine Kollegen promoviert und somit bessere Gehälter hatten, habe ich mich erneut in Hörsäle begeben. Diese Zeit (1967) an der Rutgers State University of New Jersey barg zwei zusätzliche Vorteile – mein Bruder Wolfram und seine Familie, die seit 1949 dank der Moravia Church auch in den Staaten (Princeton) lebten, waren in unmittelbarer Nähe. Zudem konnte ich im nahen New York meinen kulturellen Hunger, insbesondere den auf Opern, stillen. Allerdings hat die Metropolitan Opera in jenem Jahr gestreikt, das habe ich ihr nie so ganz verziehen! Auch meine Liebe zur klassischen Musik ist sicherlich dem Landschulheim geschuldet. Eine meiner schönsten Erinnerungen ist die, wie Fritz Winkel in der Hohen Halle der Schulgemeinschaft die Winterreise von Franz Schubert darbrachte. Ich habe über viele Jahre hinweg meine Reisen nach Europa nach dem Spielplan der Wiener Oper und des Burgtheaters ausgerichtet. Häufig war ich dann auch in Holzminden, wo ich bei Tante Lenka oder Muhme (die Witwe Theophil Lehmanns), einmal sogar in einem freien Schülerzimmer im Oberhaus, unterkam. Als unsere Eltern verstarben, wurde der Besuch ihrer Gräber auf dem Friedhof des Internats ein wichtiges gemeinsames Ritual mit meinen Schwestern.

Auch beruflich war ich viel auf Reisen und habe u.a. im Anschluss an meine Dissertation von 1970 – 1973 in Honduras gelebt, wo es meine Aufgabe war, Bananen glücklich zu machen, da ich mich mit Schädlingsbekämpfung beschäftigt habe. Ab 1973 bis zu meiner Pensionierung im Jahre 1990 habe ich im Raum Los Angeles in den sehr spannenden Bereichen Schädlingsbekämpfung und lokale Pflanzenkrankheiten geforscht und gearbeitet. Auf meinen privaten Reisen habe ich stets versucht, Gegenden aufzusuchen, in denen kein Englisch gesprochen wird. Dadurch kam ich häufig enger mit den dort lebenden Menschen in Kontakt und konnte somit unmittelbar von ihrem Leben und ihren sozialen Verhältnissen erfahren.
Mittlerweile bin ich leider aufgrund zunehmender Schwierigkeiten mit meinem Rückgrat auf einen Rollstuhl angewiesen und kann nicht mehr reisen. Aus diesem Grunde bin ich auch nach Minnesota in die Nähe meines Bruders und seiner Familie gezogen, wo ich seit 2015 in einem Altenheim wohne. Zu meinem Leidwesen finde ich hier im Heim keinen sozialen Anschluss, da sich meine Mitbewohner lediglich für Autos, Bingo und Sport interessieren. Umso größer ist meine Freude darüber, dass die Bindung zu der Familie meines (leider vor zwei Jahren verstorbenen) Bruder sehr eng ist. Insbesondere mein Neffe Paul kümmert sich rührend um mich – er war es auch, der den Kontakt zum Internat Solling aufgenommen hat. Schon verrückt, was mittlerweile mit der modernen Technik alles möglich ist! Ehrlich gesagt wäre ich, der noch mithilfe einer Rechenmaschine mitsamt Papierrolle Statistiken erstellt hat, wohl heutzutage in einem Labor verloren! Wenn ich sehe, was mein Neffe schon allein mit seinem Handy alles machen kann, so muss ich manchmal an Ohm (der Spitzname von Theophil Lehmann) denken, der schon damals Angst vor dem technischen Fortschritt hatte. Dabei gab es die ganzen krassen Sachen der heutigen Zeit noch gar nicht! Bei den vielen Vorteilen, die die schnelle Kommunikation heutzutage bietet, sehe ich auch die Gefahr, dass viele Informationen allzu schnell und ungefiltert auf die Menschen einströmen. Das beste Beispiel dafür ist meines Erachtens die Plattform „Twitter“. Ich kann den neuen Generationen nur wünschen, dass sie es nicht verlernen, sich über fundiertes Lernen und Forschen eine eigene Meinung zu bilden.

Nach wie vor verfolge ich das aktuelle politische Weltgeschehen mit großem Interesse. Dabei habe ich mir immer den Blickwinkel eines Deutschen bewahrt. Dies gilt ein Stück weit auch für kulinarische Vorlieben – wenn ich von fester Nahrung träume (ich bin seit einiger Zeit auf flüssige Nahrung angewiesen), so erinnere ich stets den Geschmack von Thüringer Klößen und Thüringer Bratwurst.

im Januar 2023

Tag der offenen Tür

Am 28. April 2024 lädt das Internat Solling herzlich zum Tag der offenen Tür mit persönlichem Beratungstermin ein.

Hier finden Sie weitere Details und Informationen zur Anmeldung: