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Dr. Julia Diekmann

Als Frau, deren intrinsischer Perfektionismus selten unter 150% befriedigt ist, war es ein nicht nur leichter Schritt, als Quereinsteigerin die Lehrtätigkeit am Internat Solling aufzunehmen. Fest steht, dass dieser Schritt ein sehr guter war und ist. Ich liebe es, mit den Schüler:innen in Kunst zu schwelgen, sie ihnen näher zu bringen und gemeinsam mit ihnen in unterschiedlichen Formen auszuprobieren. Ihr Stolz über ein gelungenes Projekt ist definitiv ansteckend.

Wobei ich gestehen muss, siehe 150 %, dass ich neue Techniken ausprobiere, bevor ich gemeinsam mit den Schüler:innen weiter damit experimentiere! Der Unterricht und dessen Herausforderung, dass Unterrichtsstunden auch mal anders laufen als von mir geplant, ist mir eine gute Schule, meinen Perfektionismus zu bremsen. Dieser stand mir insbesondere bei der Veröffentlichung meiner Dissertation gründlich im Wege, forderte mein Doktorvater doch „radikales Kürzen“. Was mir augenscheinlich im richtigen Maß geglückt ist, durfte ich mich doch über die Auszeichnung mit dem Christian-Gottlob-Heyne-Preis der Universität Göttingen freuen! Ein recht dickes i-Tüpfelchen auf die tiefe Freude, nach einem Job in der Immobilienverwaltung, der mir gegen Ende der Tätigkeit verhasst war, und der intensiven Zeit mit meiner Großmutter, die ich fünf Jahre bis zu ihrem Tode gepflegt habe, zwei Fächer zu studieren, die mich interessierten und bis heute faszinieren: Kunstgeschichte und Italianistik. Parallel zu meinem Studium habe ich mich beim Aufbau des „Forum Jacob Pins“ in Höxter engagiert, bei dem ich nebenberuflich als Kuratorin tätig bin. Jacob Pins wurde 1917 als Sohn einer deutsch – jüdischen Familie in Höxter geboren. Es gelang ihm, 1936 nach Palästina zu emigrieren, wo er trotz der schwierigen Lebensumstände und des Handicaps einer Kinderlähmung Kunst studierte. Im Weserbergland aufgewachsen, hat er im grellen Licht Palästinas lange nicht zur Farbe gefunden und so hat er häufig die heimatlichen Landschaften aus der Erinnerung gemalt. Zudem entstanden u.a. wunderschöne Holzschnitte. Er hat seinen künstlerischen Nachlass der Stadt Höxter vermacht und so zeigen wir nun in drei Themenausstellungen im Jahr aus seinem Werk, präsentieren aber auch andere Künstler:innen, die sich mit dem Judentum und zeitgenössischer Kunst auseinandersetzen. Eine wunderbare Spielwiese für die Kunsthistorikerin in mir!

Die durchaus auch mal die Seele baumeln lassen kann – und das nicht nur in der im ersten Lockdown angeschafften Hängematte, die bei uns sehr malerisch zwischen Apfel- und Pflaumenbaum baumelt! Dank des gemeinsamen Schaffens mit unseren Schüler:innen habe ich meine private Freude am künstlerischen Tun wiederentdeckt und zeichne auch zu Hause häufig. Meinen Wunsch zu rudern erfülle ich mir seit 2020 und genieße es sehr, dass es jedes einzelne Mal komplett anders ist, wenn mensch in das Boot steigt – das Wasser verhält sich unterschiedlich, die Teamzusammensetzung ändert sich immer wieder, das Wetter macht ja bekanntlich, was es will, …alles ganz herrlich unplanbar! In diesen rund eineinhalb Stunden im Boot bin ich komplett aus allem anderen raus. Den nächsten Haken auf meiner inneren Wunschliste möchte ich hinter das Singen in einem Chor setzen – ich freue mich sehr darauf, gemeinsam mit anderen ein Klangvolumen zu erzeugen und damit einen Raum zu verändern.

Es ist ganz wunderbar, nach so einigen Lebensjahren im falschen Beruf, ängstlich und introvertiert, nun hingegen so ganz und gar gerne im Leben zu stehen (und, vor einigen Jahren unvorstellbar: auch gerne auf Bühnen, hinter einem Podium – ich nehme jeden Vortrag mit, den ich kriegen kann! Mein Mann behauptet gar, ich sei zur Rampensau mutiert)! Dabei hat mir definitiv geholfen, bewusst Abstand von Dingen und Menschen zu nehmen, die mir nicht gutgetan haben. Den frei gewordenen Lebensraum füllen nun mein großer Rückhalt, mein Mann, liebe Freund:innen, spannende berufliche Herausforderungen in unserem tollen Team hier im Internat und im Forum Jacob Pins und ja, das große Geschenk, das ich mir selber bereite: nach und nach Haken hinter Dinge auf meiner Wunschliste zu setzen. Ich bin nicht „wunschlos glücklich“. Vielmehr bin ich „wunscherfüllend glücklich“.

 

im April 2023