Nora Enning
Meine Zwillingsschwester ist meine engste Vertraute und mein ärgster Feind. Wir waren echte „Hardcore-Zwillinge“ – dieselbe Kleidung, die gleichen Hobbys, gemeinsamer Freundeskreis, gemeinsames Zimmer. Jetzt, wo die Identifikationsfindung unserer individuellen Persönlichkeiten abgeschlossen ist, merken wir, wie sehr wir einander ähneln und brauchen. Um dies wertschätzen zu können, mussten wir uns allerdings bewusst trennen. Sie war auf einem anderen Internat.
Eine kurze, gemeinsame Internatszeit auf „ihrem“ Internat war unsere schlimmste „Aneinanderabkämpfzeit“. Sie war ein halbes Jahr vor mir dort angekommen und hatte bereits einen Freundeskreis, in dem sie erstmals als ganz sie selber und ohne den „Nora-Anteil“ gesehen wurde. Bis ich dazu kam. Grabenkämpfe, Eifersüchteleien … es ging nicht. So bin ich auf das Internat Solling gewechselt, um zu fühlen, was sie so hart verteidigt hat: Ein Individuum zu sein.
Da ich manchmal prinzipiell gegen den Strom und Mainstream anschwimme – nicht aus mangelndem Respekt gegenüber der Masse, sondern aus Unverständnis dem gegenüber, auf einem „Normalsein“ (was ist „normal“? Wer oder was bestimmt das?) stolz zu sein und sich darauf etwas einzubilden – war es nicht nur leicht für mich in unserer Internatsblase. Mein Sarkasmus und die Neigung, mich hinter ihm zu verstecken, haben mich auf manche Klassenkameraden arrogant wirken lassen. Da ich weder Massen beeindrucken, noch mich zur Schau stellen muss, war es nie ein wirkliches Problem für mich. Ich habe lieber ein paar enge Freunde, auf die ich mich ganz und gar verlassen kann – das können sie sich auch auf mich!
Ich kann gut zuhören, egal, ob es um Sorgen oder positive Gedanken geht. Prinzipiell helfe ich unheimlich gern! Egal ob durch Gespräche, Taten oder etwas ganz anderes. Dessen bin ich bisher auch noch nicht überdrüssig geworden. Allerdings kenne ich auch meine Grenzen und kann erkennen, wann “ich” zu viel werde, oder es mir selbst zu viel wird und ich Abstand und Ruhe brauche. Diese Ruhe genieße ich derzeit ganz besonders in meiner Studentenbude, ist es doch das erste Mal in meinem Leben, dass ich alleine wohne! Niemand will etwas von mir, ich kann mich komplett einrichten, wie ich es möchte und mich mit Tee und guter Musik einrollen. Himmlisch! Da es meinen Studiengang, „Creative Industries Management“, in seiner Form in Berlin gibt, habe ich mich gegen das eigentlich von mir präferierte, beschauliche Kleinstadtleben entschieden. „Zuhause“ ist hingegen da, wo meine Familie ist. Allen voran: Meine andere Hälfte, mein zweites Ich, Lea.
Dies nun wirklich sehen und leben zu können, ohne mich in unserem Uns freikämpfen und positionieren zu müssen, bedeutet ein großes Glück für mich. Das „Alltagsglück“ steckt für mich in unplanbaren, kleinen Momenten. Wenn das Kaffee-Milch Verhältnis perfekt ist; der Toast nicht zu braun, das Gemüse perfekt gegart ist. Ich bin gut darin, inne zu halten und die kleinen Momente im Leben zu genießen.
im Februar 2019