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Schon während meines Studiums in Göttingen konnte ich mir eine Lehrertätigkeit an einer „normalen“ Schule – 23 Schulstunden Deutsch und Sport – nicht vorstellen, und so dachte ich über Alternativen nach. Ich besuchte die Lietzheime, die Odenwaldschule und lernte auch Schondorf und Marienau kennen.

Als es dann Ernst wurde und ich die Referendarsausbildung in Braunschweig beendet hatte, wandte ich mich dem Landschulheim zu. Ich kannte den Leiter, Herrn Dr. Erbe, vom Pädagogischen Seminar in Göttingen her. Wir kamen ins Gespräch und vereinbarten, dass ich nach der Referendarszeit nach Holzminden kommen sollte. So zog ich mit meiner Kleinfamilie – Ursula war gerade geboren – im November 1961 ins Vorwerk ein.

Das Leben im Landschulheim hatte eine feste Form.
Der Tag begann nach dem Frühstück mit der „Morgensprache“ in der Hohen Halle, dann – natürlich – Unterricht, nach dem Mittagessen Versammlung, „Stille Stunde“, ein oder zweimal in der Woche Werk (Tischlerei, Schmiede, Weberei oder Arbeit in der Landwirtschaft oder Gärtnerei) – was von einigen abgelehnt, von anderen eifrig aufgenommen wurde – und die Arbeitsstunde bis zum Abendessen. Die Jungen hingegen wollten mehr Freizeit, einfach mal Nichtstun. Radios waren nur am Wochenende erlaubt, Computer gab es sowieso noch nicht. Am Wochenende waren wir oft unterwegs. Ich erinnere mich an Fahrten nach Wilhelmstal (bei Kassel), immer mit dem Fahrrad, an Paddeltouren auf der Weser, an eine nächtliche Wanderung in den Solling, bei der uns ein fürchterliches Gewitter überraschte und wir nicht schnell genug nach Hause kommen konnten. Dann die „große Wanderung“, sie führte in den Harz, nach Schleswig-Holstein und Franken. Das Kameradschaftssportfest, der Orientierungslauf und die Herbststaffette waren Unternehmungen des ganzen Heims.

Hausleiter im Vorwerk war Fritz Winkel. Er war seit 1920 im Landschulheim. Das LSH war sein Leben. Er war klar in seiner Meinung und eindeutig in seiner pädagogischen Haltung. Ich schätzte ihn sehr und habe viel von ihm gelernt – wenn auch nicht alles. Er war kein Mann des Gesprächs, seine Rede war ja ja – nein nein. Fritz Winkel verkörperte den LSH-Geist, von dem allerdings niemand so recht genau wusste, was damit gemeint war.
Aber dennoch: Der LSH Geist wohnte in der Hohen Halle. Er verkörperte sich in der Musik, im Theaterspiel, im Vortrag. Die Hohe Halle war der Mittelpunkt der Gemeinschaft.
Zu meiner Zeit als Lehrer wurde die Hohe Halle noch schweigend betreten, es durfte nicht geklatscht werden; auch liefen das Betreten und Verlassen der Halle sehr geordnet ab. Was streng und einschüchternd klingt, unterstrich aber auch den feierlichen und ernsthaften Charakter der Veranstaltungen. Zum damaligen Zeitpunkt gab es an vier Tagen in der Woche Morgensprachen und am Donnerstag und Sonntag Abendsprachen, häufig mit namhaften Gästen.

Die Stärke des Landschulheims war, dass sehr viele Mitarbeiter und insbesondere auch die Frauen sich mit dem Heim identifizierten und die Traditionen lebten.

Es gab im LSH vier pädagogische Bausteine: die Musik, die Wanderungen, das Handwerk, die Gemeinschaft – die Gemeinschaft in der Hohen Halle, in der Versammlung, im Leben der Kameradschaft.

Das Handwerk spielte auch deshalb eine Rolle, weil es im Abitur als Prüfungsfach im Rahmen der Kunst gewählt werden konnte. In diesem Rahmen entstanden Werkstücke vor allem in der Schmiede und in der Tischlerei. Sogar im Stall fand eine Prüfung statt, bei der der Abiturient seine landwirtschaftlichen Fähigkeiten beim Melken einer Kuh vor der Prüfungskommission unter Beweis stellte.

Nach sechs Jahren im Vorwerk ging ich für ein Jahr ins Mittelhaus und übernahm dann 1968 die Hausleitung im Unterhaus mit einer Magisterkam von Jungen und Mädchen. Insbesondere mit ihnen war es ein Umgang auf Augenhöhe und mit viel Vertrauen. Ich erinnere mich auch hier an unsere Provencefahrt, eine Fahrt ins Elsass und auch wieder eine Bootsfahrt auf der Weser.

Habe ich eingangs gesagt, dass mir die öffentliche Schule zu eingefahren und reformunwillig erschienen war, so erlebte ich im Landschulheim das Gegenteil. Hier waren die Studientage eingerichtet worden. Deutsch und den Sprachen (vielleicht auch Mathematik und den Naturwissenschaften) stand wöchentlich ein ganzer Tag zur Verfügung. Man traf sich am Vormittag und besprach Aufgabenstellungen zu einem Text, den jeder in der Woche zuvor gelesen hatte. Am Nachmittag traf man sich wieder und nun wurden die bearbeiteten Aufgaben besprochen. Es war eine sehr konzentrierte Arbeit und es blieb zusammen, was zusammengehörte. Diese Arbeitsweise empfand ich als außerordentlich befriedigend. Später erarbeitete eine Gruppe von Lehrern unter der Leitung von Herrn Dr. Erbe eine weitere Reform mit der Wahl von Leistungs- und Grundfächern, was dann nach behördlicher Genehmigung als ‚Holzmindener Modell‘ gehandelt wurde. Als das Kultusministerium einige Jahre später eine ähnliche Reform einführte, ging das Landschulheim-Modell in diese Reform über.
Die 1960er waren auch die Zeit des Ausbaus der Sportstätten. Aus dem rohen Mauerwerk der ungeheizten, alten Reithalle wurde eine gut ausgestattete Sporthalle. Danach entstand im Mittelteil der Giftschonung der neue Sportplatz mit der schönsten Lage im ganzen Landkreis Holzminden.

Wir waren 1961 zu dritt ins Landschulheim gekommen, in den nächsten Jahren folgten Katharina und Peter. Das Landschulheim verlangte mir viel Aufmerksamkeit ab. So blieb nicht viel Zeit für die Familie, es gab keine gemeinsamen Mahlzeiten und stattdessen viel Abwesenheit meiner Person.
Unsere Familie wäre kläglich gescheitert, wenn meine Frau Cornelie sie nicht zusammengehalten hätte und für die Kinder da gewesen wäre. Sie kümmerte sich um alles.
Familie ohne Vater war wohl auch ein Grund, weshalb wir nach 10 Jahren das Landschulheim verließen.
Es war aber formal auch so, dass ich beurlaubter Beamter war. Und dieser Urlaub war auf 10 Jahre befristet. Ich hätte mich also endgültig für das Landschulheim entscheiden müssen – und das wollte ich nicht. Dabei spielte die Veränderung des Landschulheims durch die Auswirkung der 68er-Bewegung eine Rolle. In meinen Augen sinnvolle Gepflogenheiten wurden abgeschafft, das Vertrauensverhältnis zwischen Lehrern und Schülern schwand.

Ich erhielt das Angebot, Gründungsschulleiter eines Gymnasiums in Neu-Wulmstorf zu werden. Dieser Ort, zwischen Hamburg und Buxtehude gelegen, ist nicht so schlimm wie sein Name. Also verließ ich das Landschulheim und ging im Sommer 1971 nach Neu-Wulmstorf. Wir begannen mit 70 Schülern in zwei Klassen und zwei Baracken und „allem Anfang wohnt ein Zauber inne“ … Mit den Jahren wuchsen wir auf über 1000 Schüler und bekamen ein großes Schulgebäude. Das waren nun ganz andere Erfahrungen. (Als ich im Landschulheim Oberstudienrat wurde, sagte Dr. Erbe zu mir: „Herr Mitgau, das passt eigentlich gar nicht zu Ihnen.“ Was hätte er wohl zum Oberstudiendirektor gesagt?) In dieser Pionierzeit habe ich vor allem eines gelernt: Hat ein Schulleiter ein gutes Kollegium, so lehrt auch dieses ihn viel.

1990 trennte ich mich von meiner Frau und wurde 1993 pensioniert. Ich zog daraufhin wieder nach Holzminden und lebte mit Roswitha Lehmann zusammen. Wir sollten 30 Jahre gemeinsam zu leben haben. 1995 ergriff Herr Seiler die Initiative zum Aufbau des LSH-Archivs. Er rief einige Mitarbeiter zusammen, dabei auch Roswitha Lehmann, und sie sagte zu mir: „Komm doch mal mit.“ Es wurde dann viel besprochen, das Wie und das Was – und plötzlich sah mich Herr Seiler an und sagte: „Herr Mitgau, Sie habe doch Zeit, kennen auch das Landschulheim. Wollen Sie die Arbeit nicht übernehmen?“ So kam ich zur Archivarbeit. Auf dem Dachboden des Unterhauses befanden sich 120 Umzugskartons mit Dokumenten, Schriften, Papieren. 60 Kartons wurden in die Räume des zukünftigen Archivs ins Trillofsche Haus gebracht, das das Landschulheim nach dem Tod von Dr. Triloff übernommen hatte. Ich begann auszupacken und es entstand ein großes Durcheinander. Ich bin schließlich kein ausgebildeter Archivar! Da wandte ich mich an den Stadtarchivar der Stadt Holzminden, Dr. Seliger, und holte mir Rat. Ich suchte Sachgebiete, bildete Stapel von Akten und das erste, was ich lernte: Keine Akte, kein Papier findest Du wieder, wenn Du es nicht mit einer Signatur versehen hast und ein Verzeichnis anlegst. Ich begann die Unterlagen zu ordnen und diese Tätigkeit nahm in all den Jahren kein Ende. Die Vereinigung der LEHs hatte damals Arbeitsgruppen eingerichtet, Fortbildungsgruppen für ihre Mitarbeiter für verschiedene Bereiche. So auch eine für Geschichte und Archive. Es sammelten sich die Archivbetreuer von etwa zehn Landerziehungsheimen und unter der kompetenten Leitung von Hartmut Alphei tagten wir regelmäßig einmal im Jahr. Tagungsort war jedesmal eines der Landerziehungsheime. Wir tauschten unsere Erfahrungen und Anregungen aus und besuchten jedesmal eines der großen öffentlichen Archive – in Wolfenbüttel, Hannover, Berlin, Fulda, Marburg und sonst wo. Das waren für mich wertvolle Hilfen.
Die Landerziehungsheime hatten vereinbart jeweils ihre NS-Vergangenheit aufzuarbeiten – eine 10 Jahre alte Vereinbarung. Das LSH hatte (wie andere auch) noch nichts dazu vorzuweisen. Herr Seiler meinte „Machen Sie mal“.
Ich wälzte unsere Unterlagen, befragte Zeitzeugen, befragte auch andere Landerziehungsheime und recherchierte in den staatlichen Archiven in Wolfenbüttel, Berlin, Koblenz und Marbach. 1998 kam das Heft heraus. Jeder kann es sich besorgen und lesen.

Die Devise der Archivarbeit lautet: sammeln – ordnen – forschen. Ich sammelte, was irgendwie einen Bezug zum Landschulheim hat und legte Findbücher an für Bücher, Handschriftliches und Fotos und wertete das Material aus. Der Veröffentlichung über das Landschulheim in der NS-Zeit folgte die „Chronik“ über die Zeit von 1909-1999. Dann erschien 2003 „Ein Weg durch das Landschulheim am Solling, ein historischer Rundgang“. Dazu kamen viele Artikel, meist veröffentlicht in der Giftschonung. Ich habe all diese Arbeiten mit viel Freude gemacht.

In den letzten Jahren wurden meine Augen so schlecht, dass ich am Ende nicht mehr lesen konnte. So endete meine Tätigkeit im Archiv im Jahre 2020 – nach 25jähriger Archivarbeit. Ich komme also insgesamt auf 35 Jahre Mitarbeit am Landschulheim. Nach dem Tod von Roswitha Lehmann zu Anfang des Jahres 2022 lebe ich nun als Rentner noch immer am Goseberg 34, in unmittelbarer Nachbarschaft des Landschulheims.


im Juni 2023